Diäten, Kontrolle & Selbstwert – wenn „gesunde Ernährung“ ungesund wird
- Leonie Voglmaier
- vor 2 Tagen
- 4 Min. Lesezeit
Wann hast du das letzte Mal einfach gegessen?Ohne im Kopf mitzuzählen.Ohne zu überlegen, ob es „zu viel“, „zu spät“, „zu ungesund“ ist.
Nur, weil du Hunger hattest.Nur, weil es dir gut getan hat.
Für viele Frauen ist das gar nicht so leicht zu beantworten.Denn was einmal als Wunsch nach „gesunder Ernährung“ begonnen hat, wird nicht selten zu etwas ganz anderem:Zu Kontrolle.Zu Druck.Zu einem stillen, inneren Bewertungssystem – bei jedem Bissen.
In diesem Artikel geht es genau darum:Wie aus dem Wunsch, gut für dich zu sorgen, ein Kreislauf aus Kontrolle, Scham und Selbstwert zweifeln werden kann –und wie du Schritt für Schritt wieder in eine liebevolle Beziehung zu deinem Körper und deinem Essen findest.
Wenn „gesunde Ernährung“ zur stillen Kontrolle wird
Vielleicht kennst du das:Du willst dich „bewusst ernähren“.Du liest Bücher, hörst Podcasts, kennst die neuesten Ernährungstrends.Du weißt, was „gut“ für dich ist – zumindest theoretisch.
Und irgendwann merkst du:Dein Tag dreht sich fast nur noch ums Essen.
Was darf ich heute essen?
Wie viel davon ist okay?
Ist das „clean“ genug?
Wie viele Kalorien hat das?
Du gehst essen und bist mehr im Kopf als am Tisch.Steht etwas auf dem Plan, das nicht in dein System passt, ist sofort ein schlechtes Gewissen da.
Der Wunsch, „gesund zu leben“, ist nicht das Problem.Kippt ist er dann, wenn er dich von dir selbst trennt.Wenn Regeln lauter werden als dein Körpergefühl.
Kontrolle ist kein Charakterfehler – sie ist ein Schutzversuch
Das, was da passiert, hat nichts damit zu tun, dass du „zu streng“ oder „zu verkopft“ bist.Kontrolle ist oft ein Versuch, eine innere Unsicherheit zu regulieren.
Essen hat fast nie nur mit Essen zu tun.Essen bedeutet auch:
Verbindung
Trost
Nähe
SicherheitOder eben: Ablenkung. Betäubung. Nicht-fühlen-müssen.
Wenn dein Leben sich chaotisch, überfordernd oder unsicher anfühlt,greift dein System gern zu dem, was scheinbar kontrollierbar ist:dein Körper.
Kalorien, Makros, Regeln, Pläne – all das vermittelt dir Struktur.Für einen Moment fühlt sich das sicher an.Du weißt, woran du bist.
Doch je mehr du versuchst, alles zu kontrollieren,desto weiter entfernst du dich von deiner inneren Sicherheit.Von deinem Körpergefühl.Von deiner Intuition.
Wenn dein Nervensystem auf „Überleben“ schaltet
Dein Körper ist nicht dein Gegner – er versucht, dich zu schützen.
Wenn du dich ständig bewertest („Das hätte ich nicht essen dürfen“, „Das war zu viel“, „Ich war heute nicht diszipliniert genug“),bist du innerlich im Dauerstress.
Dein Nervensystem erlebt dann nicht nur Essen, sondern auch deine Gedanken dazu als Stressor:
Druck → Cortisol steigt
Dauerbewertung → Anspannung
Angst vor Kontrollverlust → Alarmmodus
Die Folge:
Verdauung fährt runter
Hunger- und Sättigungssignale geraten durcheinander
du spürst nicht mehr: Habe ich Hunger? Bin ich satt? Was brauche ich wirklich?
Genau das erzählen viele Frauen:
„Ich weiß theoretisch alles – aber ich fühle nichts mehr.“
Sie essen „perfekt“, aber sie sind abgeschnitten von sich. Essen wird Bühne für ein tieferes Thema: Bin ich so, wie ich bin, überhaupt genug?
Wenn Selbstwert an Teller & Waage hängt
Sobald dein Selbstwert daran hängt,
wie diszipliniert du isst,
wie dein Körper aussieht,
wie „clean“ dein Tag war,
wird Ernährung zu einem täglichen Bewertungsinstrument.
Ein „guter Tag“: du fühlst dich stark, diszipliniert, „richtig“.
Ein „schlechter Tag“: du fühlst dich schwach, schuldig, versagend.
Das ist das, was so zermürbt – nicht die Ernährung selbst,sondern der permanente innere Kampf: Alles richtig machen. Bloß nichts „falsch“ essen. Immer im Griff haben.
Gesunde Ernährung ist dann nicht mehr gesund.Sie wird zur Quelle von Stress. Und Stress ist das Gegenteil von Regeneration, Verdauung, Balance – körperlich wie emotional.
Erste Schritte raus aus dem Kontrollmodus – hin zu Verbindung
Es geht nicht darum, gegen gesunde Ernährung zu sein. Es geht darum, wieder bei dir anzukommen.Bei deinem Körper. Deinem Gefühl. Deiner Wahrheit.
Hier ein paar Schritte, mit denen du anfangen kannst:
1. Ehrliche Frage: Warum esse ich gerade?
Nimm dir beim nächsten Essen einen Moment und frag dich leise:
Esse ich gerade, um mich zu nähren –oder um etwas zu kontrollieren?
Beides darf da sein. Allein das Bewusstwerden verändert schon etwas.
2. Präsenz am Tisch – statt nebenbei im Kopf
Versuch, mindestens eine Mahlzeit am Tag bewusst zu essen:
ohne Handy
ohne Laptop
ohne nebenbei zu scrollen oder zu arbeiten
Spür:
Wie riecht das Essen?
Wie schmeckt es wirklich?
Wie fühlt es sich an, langsam zu kauen?
Dein Körper kann Nährstoffe besser aufnehmen, wenn dein System nicht gleichzeitig im Alarmmodus ist.
3. Den Körper wieder mitreden lassen
Nicht nur der Kopf entscheidet, was „richtig“ ist.Frag deinen Körper öfter:
„Was brauche ich gerade?“
„Wonach fühlt es sich wirklich an?“
„Bin ich satt – körperlich, nicht nur gedanklich?“
Vielleicht brauchst du manchmal wirklich den bunten Salat.Manchmal aber auch das Stück Kuchen.Beides kann nährend sein – je nach Kontext, Zustand und innerer Haltung.
4. Schwarz-Weiß-Denken weich machen
Wenn du merkst, wie dein Kopf anfängt mit:„Das ist gut. Das ist schlecht. Das darf ich. Das geht gar nicht.“
Halte kurz inne und erinnere dich:
Kein einzelnes Essen macht dich gesund oder ungesund. Entscheidend ist die Beziehung, die du zu dir hast, während du isst.
Du kannst gut zu deinem Körper sein –und dir trotzdem bewusst etwas Süßes gönnen,ohne dich danach innerlich zu zerreißen.
5. Selbstwert entkoppeln – Schritt für Schritt
Der vielleicht wichtigste Punkt: Du bist nicht mehr oder weniger wert, je nachdem, wie du isst.
Das ist leicht gesagt – und ein Weg.
Du kannst beginnen mit kleinen inneren Sätzen wie:
„Ich bin mehr als das, was auf meinem Teller liegt.“
„Mein Wert hängt nicht an meiner Disziplin.“
„Ich darf gut zu mir sein – auch, wenn ich nicht alles perfekt mache.“
Nicht als leere Affirmation,sondern als sanfte Erinnerung, immer wieder.
Gesunde Ernährung = Beziehung, nicht Bewertung
Gesunde Ernährung bedeutet nicht Kontrolle.Nicht Optimierung. Nicht Perfektion.
Gesunde Ernährung bedeutet: Beziehung.
Beziehung zu dir.Zu deinem Körper.Zu deiner Lebendigkeit.
Zu dem Teil in dir, der schon weiß: Du musst nichts beweisen, um gut zu sein.Du musst nicht alles unter Kontrolle haben, um sicher zu sein.
Du darfst essen, um dich zu nähren –nicht, um deinen Wert zu beweisen.
Und wenn du dich das nächste Mal erwischst,wie du beim Blick auf einen Kuchen innerlich anfängst zu rechnen,dann vielleicht genau dieser Moment:
Kurz atmen.Innehalten. Dich fragen:
„Was würde ich wählen, wenn ich mir selbst vertrauen würde?“
Nicht perfekt.Sondern ehrlich.

Mit dir.




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